Liebe und die Schwerkraft

Ich habe mich verliebt.

Und das ist genauso absurd wie herzwarm. Denn das Objekt, dem meine aufwallende Liebe gilt, ist eine 90 jährige Lady, die mich genauso in ihr Herz schloss.

„Wären Sie ein Mann….Ich würde sagen, es ist Liebe auf den ersten Blick gewesen, nicht wahr ?“ Sagte sie heute, während ich ihr bei den kleinen Knöpfen der Bluse half, die nicht auf ihre gichtgekrümmten Finger Rücksicht zu nehmen scheinen. Ich nickte, während sie mit einem Blick auf mein Tattoo am rechten Arm meinte, dass sie doch auch gerne ’sowas‘ gehabt hätte. Nun sei sie wohl zu alt dafür. Ob ihre alte, knittrige Haut so ein Tattoo noch aufnehmen könnte ?
Bevor ich antworten kann, lacht sie. (Ein lautes Lachen. Kein reibendes, metalischkaltes Lachen. Sondern eines, das mitreisst)
„Die Totengräber, die mich in den Sarg betten werden, würden einander anstossen und sagen: ‚Du. Guck mal die Alte da. In ihrem Alter noch ein Tattoo!‘.“
„Mag sein, dass sie das sagen. Wen stört das ?“
„Stimmt. Mich nicht.“ Sie lacht wieder. Ich auch.

Weil ich keinen Einfluss auf die Einsatzpläne habe und die Stadt momentan an die 700 Patienten hat, die es zu versorgen gilt, weiss ich nie, wann ich bei ihr eingeteilt bin. Sie weiss es genauso wenig. Wenn ich in ihre Wohnung komme, sitzt sie immer lesend neben dem Fenster. Sie kann von dort die Schiffe sehen, die aus dem Hafen von Luzern auslaufen. Da sie trotz Brille sehr kurzsichtig ist, kommt sie langsam auf mich zu, altersgebückt und zierlich klein. Sie fokussiert mit zusammengekniffenen Augen mein Gesicht, dann lächelt sie.
„Ja. Sie sind es !“
Ihr Vorname ist der eines Mädchens in einem Märchen und so sieht sie auch aus, während ihre Freude mich zu sehen echt und herzlich ist.

Ihre Lebensgeschichte ist eine verrückte, genauso wie ihr Humor es ist, der manchmal brandschwarz ist und nicht vor ihrer eigenen Person halt macht. Sie hat Länder und Kontinente gesehen, die ich nur von Fotos her kenne. Hat Menschen getroffen, mit denen ich auch gerne ein Glas Wein getrunken hätte und die ich genauso gerne gefragt hätte: „Was ist wichtig im Leben ?“
Manchmal erzählt sie mir davon. Und sehr oft fragt sie mich, was ich denke. Über die Politik. Die Liebe. Die Stadt. Ihre Kultur. Oder Tattoos, ja. Oder Piercings, auch das will sie wissen.

Ich kann sie dann auf dem kleinen Balkon stehen sehen, wenn ich mit dem Fahrrad in die Strasse vor ihrem Haus einbiege um zum nächsten Patienten zu fahren.
Sie weiss dass ich immer einmal zurück blicke. Dann winkt sie mir zu.
Eine winzige Gestalt, die nur äusserlich zerknittert. Innen drin aber noch immer junge Frau ist, die sich um ihre Brüste sorgt, die unter der Schwerkraft leiden und deren Haare nicht mehr blond sind, sondern weiss.